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Freie Mitarbeit – Scheinselbstständige Rechtsanwälte?! Strafbarkeitsrisiken für Kanzleiinhaber

Der 1. Senat des Bundesgerichtshofes hat am 08.03.2023 die erstinstanzliche Verurteilung eines Inhabers einer Anwaltskanzlei wegen Vorenthaltens und Veruntreuung von Sozialversicherungsanteilen bestätigt (Urteil vom 08.03.2023 – 1 StR 188/22, Link zur Entscheidung). Dieser beschäftigte mehrere Anwälte auf dem Papier als freie Mitarbeiter. Tatsächlich unterlagen die Mitarbeiter seiner strengen Kontrolle, erhielten eine feste Vergütung und waren in die Arbeitsorganisation der Kanzlei vollständig eingebunden.

Der Bundesgerichtshof verweist bei Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen freien Mitarbeitern und abhängig Beschäftigten auf folgende Kontrollfrage: Gleicht die Tätigkeit mit einem – gegebenenfalls pauschalierten – Verlustrisiko einer Gewinnbeteiligung oder ist sie lediglich als Gegenleistung für geschuldete Arbeitsleistung anzusehen? Im letzteren Fall liege eine abhängige Beschäftigung vor, insbesondere das Fehlen eines unternehmerischen Risikos spreche dafür.

Die Entscheidung hat eine weitreichende praktische Bedeutung und zeigt nachdrücklich die sozialversicherungsrechtlichen und strafrechtlichen Risiken freier Mitarbeit auf. Sie fügt sich nahtlos in die restriktive Rechtsprechung des Bundessozialgerichts der letzten Jahre ein. Egal, ob bspw. Honorarärzte oder Notärzte, die nicht unbedingt dafür bekannt sind, weisungsgebunden zu arbeiten: Eine freie Mitarbeit mit festem Vergütungsanspruch ist kaum noch denkbar.

Es spielt keine Rolle, ob es sich um eine Anwalts-, Steuerberater- oder sonstiger Organisationseinheit handelt. Derartige Vertragsgestaltungen sollten vorsorglich überprüft werden.

Wenn in der Vergangenheit möglicherweise eine Fehleinschätzung zur richtigen Einordnung der Mitarbeiter vorlag, kommt ggf. eine Korrektur und Nachentrichtung von Sozialversicherungsbeiträgen bei der deutschen Rentenversicherung und die Abgabe einer strafbefreienden Selbstanzeige an das Finanzamt i. S. d. § 371 AO wegen der nachzuentrichtenden Lohnsteuer in Betracht.

Die Entscheidung wurde ausführlich besprochen von unserer Kollegin Dr. Bischoff in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins Profile des Steuerberaterverbandes Westfalen-Lippe; Startseite | StBV – Steuerberaterverband Westfalen-Lippe e.V.

Lesen Sie die ganze Entscheidung:

Urteil vom 08.03.2023 – 1 StR 188/22, Link zur Entscheidung: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&nr=133617&pos=0&anz=1